Handgreiflichkeiten, sieben Platzverweise, Spielabbruch und deutschlandweit in den Schlagzeilen: Der 2. Juni 2018 wirkt bei Türkspor Rosenheim noch heute nach – auch wenn das damalige "Skandalspiel" gegen den SV Prutting schon knapp sieben Jahre zurückliegt und die jetzige Führungsriege und Mannschaft damals noch nicht im Verein aktiv waren.
„Was damals passiert ist, war ein trauriger Tiefpunkt. Wir wollten den Verein jedoch nicht aufgeben, schließlich wurde Türkspor Rosenheim von unseren Vätern gegründet! Wir haben uns deswegen zusammengeschlossen und sind neu gestartet. Komplett bei null, ohne einen einzigen Spieler und mit einem neuen Vorstand“, sagt Abteilungsleiter Emre Öztürk.
Bislang geht der Plan voll auf: Mittlerweile hat der Klub aus der Innstadt wieder zwei Herren-Mannschaften in den Spielbetrieb integriert, die Zahl der Mitglieder ist auf 135 gewachsen. Als nächster Schritt soll nun nach und nach eine Jugendabteilung aufgebaut werden. Doch damit nicht genug: Türkspor will sich nachhaltig ein positives Image aufbauen, zeigen, dass der Klub mehr ist als ein Fußballverein – und auch gesellschaftlich einen echten Mehrwert für die Region darstellt.
Genau deswegen haben die Verantwortlichen nun das Projekt "Denk-Anstoß – Wer(t) kickt mit" zu sich in den Verein geholt. Unter der Leitung von externen Experten Tayfun Samli und Lukas Bauser ging’s dabei zunächst um die Identifikation von Werten, die der Verein verkörpern möchte – auf, aber auch neben dem Platz. Am Ende soll ein Vereins-Manifest, ein Wertekompass stehen, in dem Regeln und Ziele niedergeschrieben sind.
"Tayfun hat uns in den ersten Workshops klar aufgezeigt, dass wir als Verein noch viel zu wenig machen. Nur Fußball reicht nicht! Deshalb wollen wir nun auch versuchen, uns abseits des grünen Rasens gesellschaftlich einzubringen", sagt Özturk. Und Yücel Karavil, langjähriger Torwart und nun Teammanager, erklärt: "Wir beziehen in diesen Prozess alle mit ein: Funktionäre, Ehrenamtliche und Spieler. Jetzt ist es vor allem wichtig, dass wir gemeinsam an einem Strang ziehen."
Schwerpunktthemen von Samlis und Bausers Pilotprojekt, das sie zukünftig in noch weitere Fußballvereine bringen wollen, sind die "Demokratie auf Vereinsebene", das "Selbst- und Fremdbild" sowie die "Werteaushandlung auf strategischer Ebene", die zunächst innerhalb der Vorstandsebene im offenen Diskurs bearbeitet wurden.
"Ich bin zwar in Deutschland geboren, habe aber auch eine Migrationsgeschichte. Deswegen kann ich sehr gut nachvollziehen, wie sich die Menschen und damit der Verein fühlt. Unser klares Ziel ist es, dass der Klub der Migrantenrolle entwächst und die klassische Opferrolle verlässt. Wir müssen uns ja nichts vormachen: Rassismus und Diskriminierung sind leider allgegenwärtig", erklärt Samli: "Jetzt geht es vor allem darum, Haltung zu beziehen und potenzielle Konflikte schon vor ihrer Entstehung zu vermeiden. Dafür wollen wir Strategien entwickeln."
Doch damit das alles nicht nur graue Theorie bleibt, ging’s nun auch mit den Spielern auf den Platz. In gruppendynamischen Übungen und Rollenspielen wurden auf dem Trainingsplatz in der Wittelsbacher Straße verschiedene spielnahe Situationen nachgestellt, zum Teil bewusst provoziert. Welche Werte sind verhandelbar? Welche nicht? Wie funktioniert Konfliktmanagement auf dem Platz? Und: Wie gehe ich mit Diskriminierung und Rassismus um? Nur drei Fragen, mit denen sich die Teilnehmenden bei ihrer Praxiseinheit konfrontiert sahen.
"Wir glauben fest daran, dass ein Team immer dann gut funktioniert, wenn die Rollen und Werte klar definiert sind. Es kann auf dem Platz nicht immer jeder den Mund offen haben und Kommandos geben. Und genau dafür wollten wir mit unseren Rollenspielen und Spielformen – bei denen wir zum Beispiel komplett auf Regeln verzichtet haben – ein Bewusstsein schaffen", sagt Lukas Bauser: "Im besten Fall tragen wir mit unseren Workshops also auch zum sportlichen Erfolg des Vereins bei!"
Im Falle von Türkspor Rosenheim würde in der laufenden Saison sportlicher Erfolg den Aufstieg beider Teams bedeuten: Die erste Herrenmannschaft ist in der Kreisklasse noch im Rennen um den Relegationsplatz dabei, die Zweitvertretung belegt in der B-Klasse aktuell Rang drei. Doch auch wenn’s am Ende nicht reichen sollte, wäre das für die Verantwortlichen kein Beinbruch. Denn mit "Denk-Anstoß – Wer(t) kickt mit" hat der Verein schon jetzt gewonnen.
Das sieht auch BFV-Vizepräsident Jürgen Pfau so, der sich selbst ein Bild von dem Projekt machte: "Beim Sport geht es nicht nur ums Gewinnen oder das Spielerische auf dem Platz. Sondern es geht um den Umgang miteinander, die Werte, die unseren Sport ausmachen. Achtung, Respekt, Disziplin – da steckt so viel drin. Deswegen finde ich es richtig toll, was der Verein hier auf die Beine stellt. Wir als BFV unterstützen das Projekt sehr gerne, denn es hat sicherlich Vorbildcharakter für ganz viele Vereine in Bayern!"